„Ich habe mich dafür entschieden, einen aufrechten, vor Schwäche wankenden Juden darzustellen, er hält in seinen Armen den Davidstern, das Symbol der jüdischen Nation, der einzige Stolz, der ihm noch bleibt; ein großes Loch in seiner Brust ist die klaffende Wunde seines Volkes. [...] Meine Figur, in eine Decke gehüllt, den Kopf unbedeckt – sollte an diejenigen erinnern, die man die Muselmänner nannte. Die fast toten Deportierten – wird er überleben, emigrieren, wie andere für die Unabhängigkeit Israels kämpfen oder sterben?“ 1993 stellte der in Paris lebende Maler und Grafiker Walter Spitzer, ehemaliger Häftling des KZ Buchenwald, seinen Entwurf für ein Jüdisches Mahnmal in der Gedenkstätte Buchenwald vor. Seine Figur „Muselmann“ wurde von der Wettbewerbsjury mit einem Ehrenpreis ausgezeichnet. Sie stellt, so die Jury, „auf besonders eindringliche Art die Gestalt eines deportierten Juden dar, der im Angesicht des Todes aufrechte Haltung und Würde bewahrt.“ Seit 1995 ist die Plastik als Bronzeguss in der Kunstausstellung der Gedenkstätte Buchenwald zu sehen.
Angestoßen von der Arbeit für Buchenwald realisierte Spitzer einen weiteren Denkmalsentwurf: eine Figurengruppe zur Erinnerung an die französischen Juden, die 1942 im „Vel d’Hiver“ in Paris zusammengetrieben und von dort in die Vernichtungslager deportiert wurden; das Denkmal wurde 1994 von Staatspräsident François Mitterrand eingeweiht. „Die Shoah ist das größte Menschheitsverbrechen. In tausend, in zweitausend Jahren werden sich die Menschen, nicht nur die Juden, auch die Christen an sie als eine große Katastrophe erinnern. Die Shoah kam aus der westlichen christlichen Zivilisation, war nur durch sie möglich.“ Diese Überzeugung Walter Spitzers ist der Schaffensgrund seiner Kunst.
Zur Biografie
Walter Spitzer wird am 14. Juni 1927 in Cieszyn in Oberschlesien in eine bürgerliche jüdische Familie geboren und besucht eine deutsche Schule. Nach Kriegsbeginn wird Cieszyn von der Wehrmacht besetzt, die jüdische Bevölkerung in ein Ghetto bei Kattowitz gezwungen. Als die Nationalsozialisten das Ghetto im Juni 1943 vernichten, wird Walter Spitzer nach Auschwitz deportiert, seine Mutter am gleichen Tag erschossen. Von Auschwitz wird der 16-Jährige in ein jüdisches Zwangsarbeitslager in Blechhammer (Blachownia-Sląska) verschleppt, wo Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen zum Bau von chemischen Hydrierwerken eingesetzt werden.
Zeichnungen, die Spitzer in Arbeitspausen für Wachtposten und Mithäftlinge anfertigt, werden zum Überlebensmittel. Am 21. Januar 1945 werden die Häftlinge von der SS auf einen Todesmarsch in das 300 Kilometer entfernte KZ Groß-Rosen getrieben, dann mit der Bahn in das KZ Buchenwald verschleppt. Im „Kleinen Lager“ des KZ Buchenwald sind die aus den östlichen Lagern „evakuierten“ Häftlinge einem Massensiechtum ausgeliefert.
Seine routinierte zeichnerische Erfahrung rettet Walter Spitzer: Er porträtiert Funktionshäftlinge und verspricht, seine Erinnerungen später zeichnerisch festzuhalten. Im Gegenzug ermöglichen diese, dass er zusammen mit einem Freund den Sterbeort „Kleines Lager“ verlassen kann. Einen Tag vor der Befreiung wird Spitzer erneut auf einen Todesmarsch gezwungen; doch bei Jena gelingt ihm die Flucht. Mit einer Einheit der Signal Corps der 3. US-Armee kehrt er in das inzwischen befreite Lager Buchenwald zurück. Er begleitet die amerikanische Truppe schließlich nach Süddeutschland und Österreich bis nach Paris, wo er am 26. Juni 1945 eintrifft. Nun kann Walter Spitzer einen Kindheitstraum realisieren — ein Studium an der École des Beaux Arts.
In den folgenden Jahrzehnten entfaltet er ein breites Kunstschaffen: 1955 graviert Spitzer unmittelbar nach der Befreiung aus dem KZ entstandene Zeichnungen für den Druck in Metall; er entwirft Bühnenausstattungen, illustriert altfranzösische Literatur, malt und arbeitet im plastischen Genre. 1995 eröffnet er in der Gedenkstätte Buchenwald seine Ausstellung unter dem Titel „50 Jahre Befreiung des KZ Buchenwald. 50 Jahre Arbeit“. Walter Spitzer starb am 13. April 2021 in Paris.