Das historische Foto im Zentrum dieser Collage zeigt Überlebende des KZ Buchenwald wenige Tage nach der Befreiung am 11. April 1945. Life Magazine veröffentlichte die Aufnahme der damals bereits sehr bekannten Fotografin Margaret Bourke-White am 7. Mai. Unter den vielen Fotografien von Leichenbergen und ausgemergelten Menschen mit erloschenen Augen aus der Zeit gehört dieses Foto zu jenen, die einen besonderen Bekanntheitsgrad erreichten. Zwischen 1959 und 1962 hat Boris Lurie einen Zeitungsdruck dieses Fotos bearbeitet. 1999 hat er die entstandene Collage im Offset-Druck, der hier gezeigt wird, vervielfältigt.
Boris Lurie versah den Zeitungsdruck des Fotos mit einem umlaufenden Fries in Gestalt einer Fotoserie von einem Pin-up-Girl in wechselnden Posen. Themenfelder, die einander im gewöhnlichen Alltagsbewusstsein ausschließen, sind hier miteinander verknüpft. Was oberflächlicher Betrachtung wie eine Verhöhnung der Opfer erscheinen mag, ist tatsächlich eine komplexe Bezugnahme auf Geschichte und Gegenwart. In der Verknüpfung beider Bilder fallen vergangenheitsbezogene Erfahrungen unter dem SS-Terror und gegenwartsbezogene Erfahrungen im Exilland USA zusammen. Diese Collage irritiert und provoziert.
Diese Arbeit ist voller assoziativer Bezüge und Potenz. Sie ist ein Beispiel für das vitale, provokative und blasphemische Potential der NO!art. Sie greift verbreitete Haltungen der Ignoranz, seelischen Abstumpfung und des Voyeurismus auf und attackiert sie. Folgerichtig fanden Arbeiten wie diese, von einzelnen Versuchen der Integration und Vereinnahmung abgesehen, keinen Markt.
In Arbeiten wie „Saturation Paintings (Buchenwald)“ drückt sich eine Opposition zu Thematisierungen der zeitgleich entstandenen Pop-Art aus. In der Wahrnehmung des NO!art-Künstlers läuft der Gegensatz der Inhalte und Botschaften beider Kunstströmungen auf zwei Worte zu: „YES!“ und „NO!“ Abgesehen von den darin manifesten gesellschaftlichen Positionierungen drücken sich in dieser Konträrposition auch unterschiedliche Auffassungen über die Aufgaben von Kunst aus: Kunst zur Repräsentation und Affirmation vorgefundener Wirklichkeit dort und künstlerische Äußerung als Erkenntnisweise und revolutionäre praktische Handlungsform hier.
Zur Biografie
Boris Lurie, am 18. Juli 1924 in Leningrad (heute Petersburg) geboren, wächst im lettischen Riga auf. Dem Einmarsch deutscher Truppen in Riga am 1. Juli 1941 folgt die Entfesslung von Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung: Der Willkür und Gewalt der deutschen Besatzer und einheimischen Kollaborateure ausgeliefert, wird Boris Lurie zur Umsiedlung ins Ghetto gezwungen. Im gleichen Jahr werden seine Mutter, jüngere Schwester und Großmutter unweit von Riga ermordet. Boris und Vater Ilja Lurie überleben Kasernierungen und SD-Werkstatt Lenta in Riga, die KZ Salaspils und Stutthof, schließlich das Buchenwald-Außenlager „Polte-Werke Magdeburg“. Im April 1945 werden sie in Magdeburg durch die Ankunft amerikanischer Truppen befreit.
Im Juni 1946 emigrieren Boris und Ilja Lurie nach New York, wo Boris 1947 Lagererinnerungen in kleinformatigen Ölbildern vergegenwärtigt. Später malt er große Formate mit Darstellungen zerstückelter Frauenkörper, die Anspielungen auf die Kunst von Michelangelo und Léger erkennen lassen. Die eigene künstlerische Form findet Boris Lurie um 1959 in der Verknüpfung collagierter und übermalter Zeitungsausrisse, die in inhaltlicher Hinsicht Bilder aus den KZ und aus der alltagserotischen Gegenwartsebene aufeinander beziehen: die NO!art.
In den folgenden Jahrzehnten werden seine Arbeiten weltweit präsentiert. 1998/99 zeigte die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora eine Retrospektive von Arbeiten des in New York lebenden Künstlers Boris Lurie und veröffentlichte 2003 zur Ausstellung den Band „Geschriebigtes/Gedichtigtes“ mit Texten Luries in baltisch-deutscher Sprache.
Boris Lurie stirbt am 7. Januar 2008 in New York City.