Transkription
Sprecher:in Bereits mit 18 Jahren entschließt sich Willem Drees, politisch aktiv zu werden: Er tritt in die sozialdemokratische Partei der Niederlande ein. Kurz darauf macht sich der Absolvent einer Handelsschule mit einem Stenografie-Büro selbstständig. Er protokolliert in den folgenden Jahren vor allem die Debatten der Zweiten Kammer des Niederländischen Parlaments – und kommt so der Politik noch näher. Schon bald übernimmt er selbst Ämter in der Partei. 1939 steigt der vierfache Familienvater schließlich zum Fraktionsvorsitzenden der „Sociaal Democratische Arbeiders Partij (SDAP)“ im niederländischen Parlament auf.
Ab Mai 1940 besetzen die Deutschen die Niederlande – Drees‘ politische Karriere wird jäh unterbrochen. Über 350 Niederländer werden zwischen Juli und Oktober 1940 als Geiseln im KZ Buchenwald interniert. Die Nationalsozialisten haben sie als Druckmittel gegen die Internierung von Deutschen in Niederländisch-Indien festgenommen. Unter ihnen sind hohe Staatsbeamte, Politiker, aber auch Niederländer, die „in der Kolonie“ arbeiten und sich gerade auf Urlaub in der Heimat aufhalten.
In Buchenwald leben die Niederländer in einem besonderen Bereich im Lager, der als „Goldene Ecke“ bezeichnet wird. Willem Drees erinnert sich:
Willem Drees „Wir lebten in zwei Baracken, die innerhalb eines von Stacheldraht umgebenen Lagers noch einmal gesondert mit Stacheldraht eingezäunt waren.“
Sprecher:in Die Geiseln müssen keine Zwangsarbeit leisten, dürfen Pakete vom Roten Kreuz empfangen und werden auch sonst besser behandelt als die übrigen Häftlinge:
Willem Drees „Unsere SS-Bewacher durften uns nicht schlagen. Einige SS-Leute mussten sich erst noch daran gewöhnen, dass es in einem Konzentrationslager ein solches Verbot gab. […] Unser Leben vollzog sich vor dem düsterem Hintergrund des Elends der anderen Gefangenen, denen gegenüber die Deutschen alles für erlaubt hielten.“
Sprecher:in Die Sonderbedingungen ihrer Haft erlauben es den niederländischen Geiseln, für ihre Gruppe Bildungs- und Kulturprogramme zu organisieren.
Willem Drees „Nach einiger Zeit konnte ich meinem jüngsten Sohn, damals Student an der Rotterdamer Hochschule […], berichten, dass ich in der glücklichen Lage war, die Vorlesungen zu besuchen, auf die er aufgrund der Internierung dreier Professoren verzichten musste!“
Sprecher:in Auf der Tagesordnung stehen auch immer wieder Diskussionen über die politische und gesellschaftliche Zukunft der Niederlande. Es entstehen politische Gruppen – ähnlich den politischen Fraktionen im Parlament: eine sozialistische Gruppe um Willem Drees, eine katholische Gruppe um den ehemaligen Justizminister Goseling sowie eine Fraktion der Protestanten um Hendrik Tilanus.
Trotz aller Unterschiede sind sich die politischen Gegner von damals in Buchenwald über eines einig: Eine Zukunft kann die Niederlande nur haben, wenn nach der Befreiung alle Parteien auf einer breiten Basis zusammenarbeiten.
Im November 1941 können Willem Drees und die übrigen Niederländer Buchenwald verlassen. Ihre Freiheit erhalten sie jedoch nicht: Die meisten von ihnen kommen in ein Geisellager in den Niederlanden, in dem sie bis September 1944 festgehalten werden – so auch Drees.
Nach dem Krieg wird Willem Drees im ersten Kabinett Sozialminister und anschließend für über zehn Jahre Ministerpräsident der Niederlande. In dieser Zeit verabschiedet das Parlament unter seiner Führung viele wichtige Reformen. Drees etabliert Krankenversicherungen und stabile Renten für alle. Noch heute ist er wegen seiner Anstrengungen für den niederländischen Sozialstaat vielen als Vadertje Drees im Gedächtnis. Willem Drees stirbt im Mai 1988 – kurz vor seinem 102. Geburtstag.
