Transkription
Claude Francis-Bœuf „Die deutschen Pressemitteilungen geben uns jeden Tag mehr Grund zum Optimismus. Wir haben das Gefühl, dass Frankreich so gut wie befreit ist und erwarten voller Vertrauen das Ende.“
Sprecher:in Kurz nach seiner Rückkehr nach Frankreich erinnert sich Claude Francis-Bœuf an den Sommer 1944 in Buchenwald – die Häftlinge wissen, dass die Amerikaner vor Paris stehen.
Claude Francis-Bœuf „Wie groß ist daher unsere Überraschung, als um den 20. August noch ca. tausend Franzosen ankommen. Sie […] sind im letzten Moment […] deportiert worden.“
Sprecher:in Die abrückenden Deutschen leeren ihre Haftstätten nahe der französischen Hauptstadt; die Gefangenen schaffen sie nach Buchenwald. Doch hier ist das Kleine Lager, der Quarantänebereich für Neuankömmlinge, überfüllt. Francis-Bœuf, als Widerstandskämpfer bereits seit einigen Monaten im KZ, ist hier als Häftlingspfleger eingesetzt.
Claude Francis-Bœuf „Sie leben im Freien, in Zelten zusammengepfercht (in den Holzbaracken ist kein Platz mehr) […] Sie können sich nicht waschen, werden von den Läusen und Flöhen aufgefressen, waten in Schlamm und Staub, müssen vierstündige Appelle ertragen und sind fest davon überzeugt, dass sie in zwei Wochen, spätestens einem Monat wieder bei ihren Familien sein werden. Ich versuche herauszufinden, ob Professoren der Sorbonne darunter sind, während ich reichlich Desinfektionsmittel auf die Eiterbeulen spritze.“
Sprecher:in Francis-Bœuf ist selbst Wissenschaftler, hat Geografie studiert. Im letzten Transport aus Paris findet er tatsächlich mehrere prominente Gelehrte – unter ihnen auch Maurice Halbwachs. Der anerkannte Soziologe wird im Juli 1944 auf dem Höhepunkt seiner akademischen Karriere verhaftet. Der 67jährige Professor gehört selbst nicht der Résistance an, doch für die Gestapo gibt es andere Gründe, ihn festzusetzen: Schon seit 1906 ist Halbwachs Mitglied der Sozialistischen Partei; seine Frau Yvonne ist Jüdin, sein Schwiegervater ein vehementer Vichy-Gegner. Halbwachs setzt sich für beide ein. Und schließlich sind seine zwei Söhne im Widerstand. Der jüngere, Pierre, wird mit ihm zusammen nach Buchenwald verschleppt. Er überlebt das KZ. Halbwachs jedoch erkrankt unter den Bedingungen im Kleinen Lager schwer.
Claude Francis-Bœuf „Halbwachs, der zum Fürchten dünn war, kam nicht wieder zu Kräften. Er ließ immer wenn es möglich war, seine zahlreichen Furunkel verbinden. Halbwachs kam jedes Mal von ihnen wie eine verirrte Mumie wie[der] und war vom Kopf bis zu den Füßen in Papier eingewickelt, das bei jeder Bewegung knisterte. […] Seine Furunkel verschwanden nach und nach. Aber er war immer noch sehr schwach. Er kam in einen Block des großen Lagers, wo er auf seinen Sohn traf, und wir hofften, dass beide zusammen durchhalten und nach Frankreich zurückkehren würden. Aber Halbwachs bekam erneut die Ruhr und wurde zurück in Block 61 geschickt.“
Sprecher:in Inzwischen, Anfang 1945, haben sich die Zustände im Kleinen Lager nochmals dramatisch verschlechtert. Block 61 dient als Auffangbecken für schwer kranke, sterbende Häftlinge – und als Mordanstalt: Die SS tötet hier hunderte Häftlinge durch Giftspritzen. Halbwachs bleibt die tödliche Injektion zwar erspart, doch er geht an den Folgen der Ruhrerkrankung elend zugrunde. Knapp einen Monat vor der Befreiung Buchenwalds stirbt er.
Lange vor seiner Verschleppung hat Maurice Halbwachs als einer der ersten Wissenschaftler beschrieben, wie individuelle Erinnerungen von sozialen und jeweils gegenwärtigen Gegebenheiten geformt werden. So hat Halbwachs das Wissen darüber, wie Menschen Ereignisse – zum Beispiel Verbrechen – erinnern, entscheidend geprägt. Seine grundlegenden Arbeiten auf dem Gebiet der Gedächtnistheorie gelten bis heute als Klassiker.
